Der KI-Spiegel und die Suche nach dem verlorenen Lächeln. (KI-Glosse Nr. 3)

Mein neuer Spiegel muss einen Fehler haben. Wenn ich hineinblicke, scheinen meine Mundwinkel ungewöhnlich nach unten gezogen. Der Holzrahmen hat wohl beim Transport etwas abbekommen. Das subtropische Klima muss schuld sein. Und nun verzerrt das Bild. Neulich erst haben deutsche Forscher in „Nature“ erklärt, warum die Mona Lisa immer fröhlich dreinschaut. Im Experiment hatten sie der Lady die Mundwinkel digital immer weiter runtergezogen, und trotzdem behielt sie diese besondere Ausstrahlung. Ich muss an Gisela denken, meine alte Freundin aus Studienzeiten. Schon damals riet sie mir, mehr Emotionen zu zeigen. Gedankenverloren greife ich zum Tablet und überfliege die neuesten Meldungen meiner Kontakte im Businessnetzwerk. All deren Mundwinkel zeigen steil nach oben. Und tatsächlich – ich zähle nach – 17 von 20 leiten ihren Text damit ein, dass sie von irgendwas total begeistert sind, sich gerade richtig freuen oder gar beides gleichzeitig erleben. Seltsam, dieser überschwängliche Enthusiasmus. Die scheinen ja alle glücklich zu sein. Oder macht man das heute so? Mein eigenes Profilbild müsste ich jedenfalls dringend austauschen. Das alte Schwarz-Weiß-Foto sollte ein Jux sein. Den Walrossbart trug ich aus tiefer Sympathie für Hulk Hogan. Bis Gisela mich auf einer Party bat, doch mal etwas von Wolf Biermann zu singen. Lange her. Wie bekomme ich nur die Mundwinkel nach oben, in meinem heutigen Zustand? Wie diese deutschen Forscher, digital, nur andersrum? Im KI-Bereich soll hierzu in den letzten Monaten doch einiges passiert sein. Ich probiere es einfach aus: Mit einem Foto aus guten Zeiten, und die KI möge mich behutsam altern lassen.

In der Mappe hinter den Büchern finde ich ein Foto, auf dem ich mir gefalle. Ich stehe in unserem Garten am Grill, damals in Deutschland, zu Schröders Zeiten. Die Söhne sind mit drauf, die Tochter sowie meine ehemalige teure Gattin. Außerdem die schwedische Austauschschülerin und unser Mieter aus dem Souterrain, ewiger Student, Angewandte Freizeitwissenschaften. Gesellig und trinkfest war er ja. Und schließlich schräg hinter dem Grill steht noch der Heiland auf seinem Basaltsockel, mit ausgebreiteten Armen. Etwas Wehmut steigt in mir auf.

Ich nehme keine herkömmliche KI, sondern den Anbieter meines Vertrauens – meine Vergangenheit geht ja niemanden etwas an. Ich lade das Bild hoch und befehle der KI: „Lasse diese Menschen um 20 Jahre altern, und lass die Frau weg.“ Das Ergebnis verschlägt mir die Sprache. Die Frau ist weg. Meine Kinder sind tatsächlich älter und grinsen auf diesem KI-generierten Bild genauso blöd wie meine heutigen Social Media Kontakte. Die Tochter hat ordentlich zugelegt, Oberarmtattoos und Bürstenschnitt, der jüngere Sohn ist mager und trägt die Haare zum Dutt, und der Älteste posiert als Travestiestar. Ich selbst: grau und verbraucht. Ich bin erschüttert! Sind das diese berüchtigten KI-Verzerrungen? Oder blicke ich gerade in den Spiegel der Wirklichkeit? Der Student sieht aus, als sei er bloß etwas älter geworden und immer noch ein Taugenichts. Und die Austauschschülerin hat auf diesem Foto definitiv keine skandinavischen Wurzeln mehr. Gottlob steht der Heiland noch da. Doch irgendwas stimmt nicht mit dem Kreuz auf seiner Brust – es steht auf dem Kopf! Jetzt reicht es mir! Soviel satanische Umkehrung in einem Bild, das muss sofort wieder raus aus dem Schädel. Ich erledige das mit einem doppelstöckigen Rum und gehe zur KI-Konkurrenz in der Hoffnung auf Ergebnisse, die mir besser passen.

Aha, dieses Bild sieht deutlich besser aus. Fotorealistisch. Ich bin gut gealtert. Frische Gesichtsfarbe, markante Züge, volles Haar, klarer Blick und ein Lächeln wie von Leonardo da Vinci von Herzen gegeben. Das wird mein neues Profilbild. Die werden staunen! Ich vertiefe mich in dieses Stück KI-Kunst. Die Tochter ist gut geraten. Wäre schön, wenn sie heute wirklich so aussieht. Die Züge des Ältesten sind charismatisch geworden, ein vorzeigbarer Stammhalter! Gute KI! Doch halt, hier hat sie einen Fehler gemacht. Das ist ja ärgerlich! Meinem Jüngsten hat die KI den Kopf des Studenten aufgesetzt. Und der Faulenzer selbst steht daneben, die Hand auf der Schulter meines Juniors, und grinst mich vom Bild aus an. Kerngesund und gut erholt sieht er aus, der Tagdieb! Noch einen Doppelstöckigen, ich proste dem Heiland zu. Der ist wenigstens immer noch der Alte.

Mein Profilbild ist aktualisiert. So gefalle ich mir. „Zurück in Spiel!“, schreibe ich. „Bin begeistert!“. Abschicken. Ich schließe die Augen und lasse das alles auf mich wirken. Kurz darauf meldet sich ein sanfter Ton – die erste Reaktion ist da. Von Gisela. „Habe Dein neues Profilbild gesehen“, schreibt sie. „Du siehst glücklich aus!“

 

Erstveröffentlichung in: DIE ZEITUNG 3/2024 (202), p. 27 (28.03.24)

veröffentlicht am 28.03.2024